Hoch über der Kurstadt Bad Orb erhebt sich auf dem Molkenberg ein unscheinbarer, aber symbolträchtiger Aussichtsturm: der Wartturm. Mit nur 9 Metern Höhe und 40 Stufen bis zur Plattform mag er schlicht erscheinen – doch hinter seinem Mauerwerk verbirgt sich ein Panorama, das weit über die Dächer der Stadt hinausreicht – und eine Sage, die tief in die regionale Identität eingewoben ist.

Ein Ort mit Weitblick

Der Wartturm ist rund um die Uhr öffentlich zugänglich und bietet Besuchern einen eindrucksvollen Rundumblick über das Orbtal, den gegenüberliegenden Haseltalhang sowie weiter nach Osten bis ins Kinzigtal und bei klarer Sicht bis hin zum Hohen Vogelsberg. Die erhöhte Lage des Turms macht ihn zu einem der wenigen echten Fernblicke im Spessart, dessen sonstige Topografie von bewaldeten Buntsandstein-Hochflächen geprägt ist.

Der Spessart als historische Kulisse

Im Mittelalter und der frühen Neuzeit war der Spessart ein schwer zugängliches, von Wilderei und Räuberbanden durchzogenes Gebiet. Der Wartturm auf dem Molkenberg diente vermutlich der Überwachung wichtiger Handelswege und war Teil eines Netzes aus Signal- und Beobachtungstürmen. Vergleichbare Türme – wie der Ludwigsturm bei Alzenau, der Kellerturm bei Dammbach oder die Bellinger Warte – belegen die strategische Funktion solcher Bauwerke in dieser Region.

Die Sage vom „Robin Hood des Orbtals“

Zentral für die Bedeutung des Turms ist die Sage vom Peter von Orb, niedergeschrieben im 19. Jahrhundert unter dem Titel „Die Sage vom Fuchstein“ in der Sammlung Spessartsagen. Peter von Orb war ein Räuber, der – so heißt es – die Reichen bestahl und seine Beute mit kämpfenden Armeen teilte. Ein charismatischer Gesetzloser, der von der Bevölkerung gleichermaßen gefürchtet wie bewundert wurde.

Sein Schicksal wendete sich, als er von der Obrigkeit gefangen und zur Abschreckung auf dem Molkenberg eingemauert wurde – dem Hungertod überlassen. Doch Peter hatte einen ungewöhnlichen Helfer: einen zahmen Fuchs, der unter dem Turm einen Fluchttunnel grub. Peter entkam, der Fuchs aber wurde entdeckt und mit einem Felsblock im Gang eingeschlossen – der „Fuchsstein“ war geboren. Die Sage lebt bis heute in der lokalen Erzähltradition weiter.

Im Detail erzählt die Legende, dass Peter von Orb im Jahr 1655 nach zahlreichen Raubzügen im Spessart gefasst und auf dem Molkenberg in den alten Wartturm gesperrt wurde. Gepeinigt von seiner aussichtslosen Lage, versuchte er, sich das Leben zu nehmen, indem er mit dem Kopf gegen die Wand rannte – doch er sank nur betäubt zu Boden. Als er wieder zu sich kam, bemerkte er ein Scharren und Kratzen unter sich. Schließlich schaute ein Fuchskopf aus der Erde hervor. Peter hatte das Tier in seiner Jugend gezähmt, und es grub nun einen Gang zu ihm in den Turm. So entkam er den Häschern – der Fuchs jedoch wurde später entdeckt und in der Öffnung lebendig verschüttet. Die Stelle wird seither „Fuchsstein“ genannt.

Peter von Orb – zwischen Legende und Lokalgeschichte

Eine andere Version der Geschichte führt Peter in den Dreißigjährigen Krieg. Dort erscheint er als Vertreter eines Adelsgeschlechts „von Erphen“, das mit dem Kloster St. Peter verbunden war. Bauern, die der Klosterherrschaft unterstanden, beklagten die drückende Herrschaft der Vögte und nannten ihre Siedlung später „Peterlynge“. Ob der legendäre Peter von Orb ein historisches Vorbild hatte, bleibt ungeklärt – doch seine Geschichte verweist auf reale soziale Spannungen jener Zeit.

Kulturelle Wiederbelebung

Seit 1980 steht eine Bronzestatue des Peter von Orb – geschaffen von Hans Prasch – am Ortsrand von Bad Orb. Sie ist wohl die einzige Räuberstatue Deutschlands, die eine Bank bewacht. Die örtliche Theatergruppe „Peter von Orb“ pflegt das Vermächtnis der Sage mit jährlichen Aufführungen im Rahmen der Holzhoffestspiele.

Ein Knotenpunkt der Wanderkultur

Der Molkenberg liegt direkt am Spessartbogen, einem ausgezeichneten Premiumwanderweg. Zudem verlaufen zwei thematische Routen dort: Der Sagenweg, der Sagen des Orbtals erläutert, und der Grenzstein-Rundweg, der entlang historischer Hoheitsgrenzen von Kurmainz, Fulda und Forstämtern führt. Beide Touren erschließen die Landschaft nicht nur landschaftlich, sondern auch kulturell und historisch.

Forschungslücken und Ausblick

Vieles über den Wartturm bleibt im Dunkel: Das exakte Baujahr ist unbekannt, ebenso fehlen archivalische Hinweise auf eine militärische Nutzung. Der erwähnte „Fuchsstein“ wurde bisher nicht archäologisch dokumentiert – ein möglicher Anknüpfungspunkt für künftige Untersuchungen.


Der Wartturm auf dem Molkenberg ist weit mehr als ein Aussichtspunkt. Er ist ein stiller Zeuge vergangener Jahrhunderte, Träger lebendiger Überlieferungen und identitätsstiftendes Symbol der Bad Orber Kulturlandschaft. Wer ihn besucht, sieht nicht nur weit – er blickt auch tief in eine Geschichte, in der Realität und Sage auf faszinierende Weise ineinandergreifen.